amerikanische Nation und Kultur

amerikanische Nation und Kultur
amerikanische Nation und Kultur
 
Als im 17. Jahrhundert in Nordamerika allmählich eine eigenständige englischsprachige Kultur und Gesellschaft entstand, beanspruchte sie eine - zunächst religiös definierte - Ausnahmeposition; seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten im späten 18. Jahrhundert fußte diese auf den politischen und ethischen Wertvorstellungen eines je nach Couleur eher aufgeklärten oder eher protestantisch geprägten Menschenbildes: Freiheit, relative Gleichheit und Selbstverwirklichungschancen der Individuen, demokratische Machtkontrolle und Interessenausgleich. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich daraus ein Sendungsbewusstsein, das unter dem Schlagwort »Manifest Destiny« (»Offenkundige Bestimmung«) nicht nur die Ausbreitung der Ideen und Ideale Amerikas, sondern auch seine Expansion begründen half. Aus der bescheidenen Bauern- und Handelsbürgernation an der Ostküste wurde in wenig mehr als einem Jahrhundert durch Kauf und Eroberung einer der nach Fläche und Bevölkerungszahl größten Staaten der Erde, die führende Industrie- und Agrarnation und schließlich eine der Großmächte mit imperialen Ambitionen.
 
Der Wunsch nach einer der Bedeutung des Landes angemessenen Nationalkultur war indessen nicht ohne Schwierigkeiten zu erfüllen. Die Abhängigkeit von europäischer Kunst und Literatur blieb lange Zeit erdrückend. Die Anlehnung an die klassische Antike in der öffentlichen Architektur der neuen Hauptstadt Washington wie auch die Bemühungen Noah Websters um die Anerkennung des amerikanischen Englisch als eigenständige Sprache sind Beispiele für Versuche, der Dominanz des Mutterlandes zu entkommen. Von zentraler Bedeutung war die Entdeckung der amerikanischen Natur und Landschaft als einem Erfahrungsraum, der den Vergleich mit Europa nicht zu scheuen brauchte. In »Rip Van Winkle« (1819) und anderen Erzählungen romantisierte Washington Irving das Hudson-Tal, indem er es mit historischen, mythischen und folkloristischen Assoziationen bereicherte. Der Hudson wurde in der Folge zum »amerikanischen Rhein« stilisiert und in den Bildern der ersten Schule der amerikanischen Landschaftsmalerei, der Hudson River School, verherrlicht.
 
Dienten Größe, Erhabenheit und Unberührtheit amerikanischer Landschaft von den Niagara-Fällen über die weiten Prärien bis hin zu den Rocky Mountains immer wieder dem Vergleich mit der Alten Welt, so wurde die bis zum Auftauchen des Hollywood-Westerns mehr und mehr mythisierte Zone der Auseinandersetzung mit der wilden Natur und den Indianern, die »frontier«, zum Fokus des geschichtlich-gesellschaftlichen wie kulturellen Selbstverständnisses der neuen Nation. Wie die historischen Romane des Schotten Walter Scott lassen die »Lederstrumpf«-Romane James Fenimore Coopers entscheidende Phasen der amerikanischen Geschichte anhand der Lebensphasen eines Zeitzeugen und als »Grenzer« Beteiligten erfahrbar werden. Wenngleich Cooper das Vorrücken einer auf Privateigentum, insbesondere Landbesitz, basierenden amerikanischen Zivilisation insgesamt unterstützt, zeigt er doch - etwa in »Die Ansiedler« (1823) und »Der letzte Mohikaner« (1826) - die Tragik des Wertekonflikts zwischen Indianern und Weißen, Jägern und Bauern, Naturnützenden und Naturvernichtern.
 
Nur durch den Erwerb einer geschichtlichen Dimension konnte die amerikanische Kultur konkurrenzfähig werden, und dies geschah durch den Rückgriff auf Themen aus der Vergangenheit der Indianer, die man als edle oder barbarische Wilde darstellte, aber auch durch die Einbettung der amerikanischen Geschichte in eine Menschheitsgeschichte, die im Aufstieg der angelsächsisch-protestantischen USA kulminierte. Die großen Historiker des 19. Jahrhunderts, etwa William H. Prescott, George Bancroft oder Francis Parkman, erzählten Geschichte im Sinne der »Translatio-imperii«-Idee, wonach die politischen, religiösen und kulturellen Zentren der Menschheit vom Orient über Europa schließlich nach Nordamerika »gewandert« seien. In seinem als »intellektuelle Unabhängigkeitserklärung« gefeierten Vortrag »Der amerikanische Gelehrte« (1837) sieht auch der einflussreiche Dichter-Philosoph Ralph Waldo Emerson, die zentrale Figur des Transzendentalismus, die Zukunft als wichtiger an als »die höfischen Musen Europas«. Aufgabe gerade des amerikanischen Künstlers und Intellektuellen sei es, die in Vergessenheit geratene Einheit der Welt wiederzubeleben, indem er sein Selbst der Natur, der kulturellen Tradition, aber auch der Welt des gegenwärtigen Handelns öffnet. Die Einheit von Mensch und Natur, Geistigem und Physischem, Hohem und Trivialem wird in seinen späteren Schriften zur pantheistischen Vorstellung einer alle Bereiche durchwebenden »Überseele«.
 
Emersons optimistische Verbindung von romantisch gefärbtem Idealismus und Pragmatismus bereitete den Boden für die Dichtung Walt Whitmans, der in seiner vielfach erweiterten Sammlung »Grashalme« in der zweiten Jahrhunderthälfte Amerikas Einheit in der Vielfalt feiert. Sein in Abkehr von der poetischen Tradition verwendeter Langzeilen-Freivers sowie seine assoziative und kumulative Schreibweise entsprechen der propagierten Gleichwertigkeit aller Gegenstände, weshalb hier Quantität zum Qualitätskriterium wird.
 
Kein Literat des 19. Jahrhunderts verkörpert die Expansion der USA, die räumliche und soziale Mobilität seiner Bevökerung, den Bruch mit tradierten und elitären kulturellen Normen und literarischen Formen besser als Mark Twain. Als Vertreter des nach dem Sezessionskrieg (1861-65) dominanten literarischen Realismus zeichnet er in seinen Reise- und Erinnerungsbüchern (etwa »Leben auf dem Mississippi«, 1883) typische Seiten amerikanischer Regionen in Gegenwart und Vergangenheit, vom Alten Süden seiner Jugend bis zum Kalifornien der Goldgräberzeit. In »Huckleberry Finns Abenteuer« (1884) wie auch in anderen seiner Romane mischt er Elemente diverser Gattungen, um in humoristischer oder satirischer oder auch skeptisch-philosophischer Manier nach Möglichkeiten moralischen Handelns in einer Sklaven haltenden Gesellschaft wie jener der Südstaaten zu fragen. Hucks Erzählstimme, die eines Dialekt sprechenden Jungen und sozialen Außenseiters, eröffnete der Literatur neue Dimensionen und repräsentierte zugleich, was Twains Freund William Dean Howells als den »demokratischen Roman« propagierte, eine Literatur für alle Leserschichten.
 
Prof. Dr. Helmbrecht Breinig
 
 
Amerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.
 Fluck, Winfried: Inszenierte Wirklichkeit. Der amerikanische Realismus 1865—1900. München 1992.
 Schirmer, Walter F.: Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur, 2 Bände. Tübingen 61983.

Universal-Lexikon. 2012.

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